»Man traf sich an der Raupe«
Es ist Anfang Dezember und in meiner Heimatstadt Lemgo steigt die Nervosität. Es ist jedoch noch nicht die Freude auf den Heiligen Abend, die sich breit macht, denn vorher gilt es noch ein anderes Fest zu feiern. Jeder Lemgoer weiß Bescheid, die Rede ist vom jährlichen Volksfest »Kläschen«. Vom ersten Donnerstag des Dezembers bis zum Sonntag verändert die sonst so ruhige Stadt ihr Wesen dann komplett.
Kilometerlang reihen sich dann wieder die Glühweinbuden, Bratwurstgrills und Verkaufsstände durch die Mittelstraße und über die Wallanlage. Und auf der sonst als Parkraum genutzten Bleiche und dem Regenstorplatz steht Fahrgeschäft neben Fahrgeschäft, auch die Losbude, der Schießstand und das legendäre Kentucky Derby fehlen nicht, so viel ist sicher. Ungeschriebenes Gesetz ist es, dass neben den unzähligen Besuchern des größten Weihnachtsmarktes der Region – der weit über das Lipperland hinaus bekannt ist – an besagtem Wochenende auch alle Exillemgoer zu einer Visite in ihrer alten Heimat eintreffen. Eine schöne Tradition, die verhindert, dass man – wie es andernorts leider oft der Fall ist – mit den Jahren die alten Freunde aus den Augen verliert. An Kläschen hingegen, da sieht man sich immer wieder und meist ist es nach kurzem Hallo schnell so, als wäre man nie weg gewesen. Tatsächlich habe ich selbst bisher kein Kläschen versäumt. Selbst mit dem Kinderwagen, so wird mir versichert, hat man mich und meine Schwester pflichtbewusst herüber geschoben.
Das muss ich glauben, denn meine erste Erinnerung – vielleicht war ich vier – ist, dass mich mein Vater auf seinen Schultern durch die Stadt getragen hat und meine Augen immer größer wurden, weil ich gar nicht glauben konnte, wie viele Menschen sich dicht an dicht durch die Mittelstraße schoben. Als ich dann die bunten Lichter auf dem Regenstorplatz zum ersten Mal bewusst wahrgenommen haben, war es auch um mich geschehen. Der abschließende Schokoapfel tat sein Übriges.
Doch wie mag es früher ausgesehen haben? »Man traf sich an der Raupe« antwortet meine Mutter spontan und ergänzt, die wäre früher dort gewesen, wo heute immer der Musikexpress steht. Ohne dass eine Verabredung nötig gewesen war, traf sich Lemgos Jugend dort. »Je älter man wurde,« schmunzelt meine Mutter, »desto wichtiger wurde es aber, neben wem man in dem Vorläufer des heutigen Discokarusells zu sitzen kam. Denn das alte Fahrgeschäft lief zwar langsamer, aber die Rotation genügte bereits, um recht eng an den außen sitzenden Nachbarn gedrückt zu werden.
Weiter noch reichen die Erinnerungen meiner Großmutter zurück. »Direkt nach dem Krieg gab es ja nichts,« fügt sie an, doch schon kurz nach »der Währung« sei das Verkaufsgeschäft in der Mittelstraße und auf dem Wall wieder auf vollen Touren gelaufen. Allerlei Wundermittel zur Reinigung wurden dort der Hausfrau angepriesen, doch sie selbst sei immer recht zielstrebig zur Fischbraterei unterwegs gewesen. Das tut sie noch heute mindestens an einem Abend, auch wenn die Fischbude inzwischen ungleich moderner daherkommt. Große Anziehungskraft habe auch stets das alte Kettenkarussell und das »Riesenrad« (zugegeben, es ist recht klein) besessen. Und keineswegs konnte man nach Hause gehen, bevor man ein Lebkuchenherz gekauft und eine Rose geschossen bekommen hatte.
Historisch geht das Fest übrigens auf den Nikolaimarkt aus dem 13. Jahrhundert zurück, einer ursprünglich kirchlichen Tradition, die sich jedoch im Laufe der Zeit zu einem weltlichen Fest wandeln sollte: Zunächst hauptsächlich zu einer Verkaufsveranstaltung, später gewann der Unterhaltungsaspekt – zeitweise wurden gar wilde Tiere vorgeführt – mehr und mehr an Popularität. Und bis zum heutigen Tag ist die Bedeutung von Kläschen für Lemgo und seine Einwohner nie wieder zurückgegangen.
Der Text erschien ursprünglich in der Lippischen Landeszeitung.