Brauchst Du Semmel?

lippische-strohsemmel»Brauchst Du Semmel?«, lautet eine der letzten Fragen, die ich stets gestellt bekomme, bevor ich nach einem Besuch im heimatlichen Lemgo wieder die Rückreise in meinen westfälischen Wohnort antrete. Meine Antwort lautet dann: »Ja!« Denn einer der gravierendsten Nachteile von Westfalen und dem Rest der Welt besteht darin, dass man dort naturgemäß keine Lippischen Strohsemmel kaufen kann.

Und an das, was andernorts als »Brötchen«, »Schrippe« oder im Süden gar als »Semmel« selbst feilgeboten wird, mag ich mich nicht gewöhnen. Zu gut schmeckt mir ein echter Strohsemmel, mit Butter und Marmelade bestrichen oder mit Wurst und Käse belegt (Kenner klemmen auch gerne Mal einen Schokokuss dazwischen) im Vergleich zu diesen krümelnden, größtenteils aus Luft bestehenden und sich in Zeiten der SB-Bäckerei geschmacklich mehr und mehr an Pappmaché annähernden Halbrundgebäcke in Pooptik. Nein, ein Semmel ist da doch etwas ganz Anderes. Seine schöne kompakte Krume ist weitgehend krümelfrei, dank seines Teigs bleibt er viel länger frisch und die Löcher auf der Kruste, von denen mein Großvater mir als Kind jahrelang weisgemacht hat, sie würden alle einzeln hereingepikst, geben selbst seinem Äußeren noch etwas Besonderes.

Mit einem Vorrat von 20 bis 30 Semmeln trete ich dann also regelmäßig wieder meine Heimreise an. Etwa so viele waren es auch immer, mit denen wir früher unsere familiären Fahrten in den Urlaub angetreten sind. Auch wenn das Ziel fern war und es daher schon um 6.00 Uhr in der Früh losgehen musste und Nahrungsaufnahme um diese Zeit normalerweise so gar nichts für mich und meinen Magen war, den ersten Semmel habe ich mir zum Erstaunen meiner Familie immer schon in Brake ausgewickelt. Bereits am Abend zuvor geschmiert, war er auf wundersame Weise über Nacht noch besser geworden und die Versuchung einfach zu groß, um noch zu warten.

Ihre Vorzüge verdanken die gelochten Teigwaren dabei ihrer besonderen Herstellung. Denn anders als bei normalen Brötchen wird der rohe und portionierte Hefeteig hier zunächst kurz in kochendem Wasser gebrüht – das macht ihn haltbarer – bevor er dann auf Weizenstroh – daher der Name, die Rillen an der Unterseite und der besondere Geschmack – statt auf einem Backblech in den Ofen kommt. Um die Entstehung dieses Verfahrens ranken sich viele Geschichten. Die schönste besagt, der erste Semmel sei durch Zufall entstanden, als einem Bäckerlehrling an einem rabenschwarzen Tag sein Brotteig zunächst in den Wasserkessel fiel, woraus er ihn zu retten suchte. Dabei jedoch verbrannte er sich elendig die Finger und lies den heißen Teig ein weiteres Mal fallen, diesmal auf den Fußboden, wo dieser im Stroh landete. Aus Wut habe er ihn dann, mitsamt des daran klebenden Strohs, ins Ofenfeuer geschmissen; mit überraschendem Ergebnis. In Wahrheit ist es wohl etwas weniger spektakulär gewesen und das Rezept wurde im frühen 19. Jahrhundert von einem Soldaten aus Russland mitgebracht, wo das Überbrühen von Teigen vor dem Backen durchaus üblich war. Eine dritte Überlieferung sieht gar den Lemgoer Bäckergesellen Conrad Ludwig Richter als Urheber, der sich damit nach Abschluss seiner Wanderjahre in Detmold als erster an Strohsemmeln versucht und sich mit ihnen schnell im ganzen Lipperland durchgesetzt haben soll. So oder so, man kann von Glück reden. Denn Semmel braucht man einfach.

PS: Die im Bild sind selbst gebacken und sehen deshalb etwas komisch aus, waren aber lecker! Dazu ein Andermal mehr … Am Wochenende ist in Lemgo passenderweise übrigens Strohsemmelfest. Obenstehender Text stand zu ebendiesem Anlass vor ein paar Jahren auch schonmal in der LZ.